Liebe Schwestern und Brüder,
mit dem heutigen Impuls möchte ich noch einmal an die ersten Sätze des Evangeliums erinnern, das wir am letzten Sonntag gehört haben:
Jesus betete einmal an einem Ort; als er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger beten gelehrt hat! Da sagte er zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen! Und erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist. Und führe uns nicht in Versuchung! (Lk 11,1-4)
Wo genau der Ort ist, an dem Jesus seine Jünger zu beten gelehrt hat, können wir heute nicht sagen. Man nimmt an, dass es auf dem Ölberg gewesen ist. Dort steht bereits seit vielen Jahrhunderten die Paternoster- bzw. die Vaterunser-Kirche. Im Kreuzgang der Kirche und im Garten ist auf Steintafeln der Text des Vaterunsers in 140 verschiedenen Sprachen zu lesen. Dazu zählen natürlich auch Latein, Deutsch, Englisch, aber auch mir ganz unbekannte Sprachen sowie Dialekte wie z.B. Helgoländisch. Auf dem Bild oben sind die ersten Sätze des Vaterunsers in griechischer Sprache zu sehen.
Im Vaterunser beten wir: Unser tägliches Brot gib uns heute. Im griechischen Text steht vor dem Wort Brot das Adjektiv epiousion. Wir übersetzen dieses Wort mit: täglich. Und so beten wir: Unser tägliches Brot gib uns heute. Damit bitten wir unseren Vater im Himmel, dass wir heute das Brot, die Nahrungsmittel erhalten, die wir heute zum Leben brauchen.
Interessant ist, dass das Wort epiousion in der Übersetzung noch zwei weitere Bedeutungen hat, die über das hinausgehen, was wir mit dem täglichen Brot für heute meinen. Epiousion bezeichnet auch das Brot, das wir morgen zum Leben brauchen. Damit wird der Horizont des heutigen Tages überschritten im Blick schon auf den morgigen Tag. Wenn wir darauf vertrauen, dass unser Vater uns das Brot für heute gibt, so können wir auch darauf vertrauen, dass er uns das Brot für morgen nicht vorenthält. Wir können darauf vertrauen, dass er auch schon für morgen für uns vorgesorgt hat. Er möchte, dass das Leben weitergeht, dass der Mensch eine Zukunft hat.
Und in einer weiteren Übersetzung bedeutet das Wort epiousion: wesentlich. Gib uns das wesentliche Brot, das wir zum Leben brauchen, so könnte man auch übersetzen. Wesentlich meint hier nicht eine Mengenangabe im Sinne von ausreichend oder notwendig, sondern meint eine Qualität: das wesentliche, das bedeutsame Brot. Damit geht diese Bitte im Vaterunser über die Dimension des materiellen Brotes hinaus und schließt die geistig-seelische Dimension mit ein. Wir bitten im Vaterunser also auch um das wahre Brot vom Himmel, das den Hunger der Seele stillt. Dieses bedeutsame Brot wird uns in jeder Feier der Eucharistie geschenkt und vor dem Empfang der Kommunion bitten wir um den Empfang auch dieses wahren Brotes. Bittet und so wird euch gegeben (Lk 11,9), auch diesen Satz haben wir im Evangelium am letzten Sonntag gehört.
Am Ende des Impulses möchte ich Sie und Euch jetzt einladen, das Vaterunser zu beten in der Gemeinschaft mit allen Menschen weltweit, die sich sicher in mehr als 140 Sprachen betend und bittend an Gott unseren Vater wenden.
Im Gebet verbunden und mit dem Wunsch, dass es für Sie und Euch immer dieses Epiousion-Brot in allen drei Bedeutungen gibt -
Ihr und Euer Diakon Benno Bolze